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Vertreiben oder bleiben? (Fortsetzung)



Wie kann die Kommunalpolitik auf diese Problemstellung reagieren? Tatsächlich kann kein »gesamtgesellschaftliches Interesse« – auch nicht auf kommunaler Ebene – unterstellt werden, die Fortschreibung und Verschärfung sozialer Desintegration zu bekämpfen. Führt der Ausschluss einzelner Gruppen der Gesellschaft zum reibungsloseren Funktionieren der übrigen gesellschaftlichen Sphären, trägt soziale Desintegration sogar zur gesellschaftlichen Stabilisierung bei. Die laufenden Repressionsmaßnahmen gegen Randgruppenszenen können als Teil einer derartigen Strategie der Ausgrenzung und Absonderung im Rahmen einer kriminalisierenden Stadtraumpolitik begriffen werden.


2. Rechtsbrecher im Stadtrat? – Vertreibungsstrategien und geltendes Recht

Eine kommunale Strategie im Umgang mit innerstädtischen Randgruppenszenen, die nicht auf Verdrängung setzt sowie die Bürgerrechte der Szeneangehörigen achtet, sollte angesichts der skizzierten Situation mit der genauen Betrachtung des Gesamtbildes und seiner einzelnen Teilszenen beginnen. Grundsätzlich gilt es, insbesondere die sogenannte »Stadtstreicherszene« gar nicht erst im Zusammenhang mit diffus definierten »Sicherheitsgefährdungen« (für PassantInnen und andere) zu behandeln. Die Angehörigen dieser Gruppe sind nicht als »Gefährder«, sondern als »Gefährdete« anzusehen. Des weiteren kann eine Analyse der sozialen und rechtlichen Rahmenbedingungen sowie der örtlichen Gegebenheiten aufzeigen, dass polizeiliche und ordnungsbehördliche Maßnahmen zur Säuberung der Stadtzentren in aller Regel sowohl unproduktiv als auch unzulässig sind.

Vorrangige Bezugspunkte kommunaler Satzungen bzw. Verordnungen gegen die »Stadtstreicherszene« sind die Obdachlosigkeit, das Bettelverhalten, der störende Alkoholgenus in der Öffentlichkeit und die Sondernutzung öffentlicher Wege und Plätze. Diese Bezugspunkte sollen hier unter rechtlichen Gesichtspunkten kurz erörtert werden, denn die meisten Versuche, mittels kommunaler Satzungen gegen Randgruppenszenen vorzugehen, können einer rechtlichen Überprüfung nicht standhalten (2). Über eine Klage gegen »Bettelsatzungen« und ähnliche Verordnungen lässt sich eine Kritik an Verdrängungsstrategien und die Suche nach neuen, nicht-repressiven Lösungen einleiten.

a) »Obdachlosigkeit»

Traditionell wurde die Obdachlosigkeit (die Unterscheidung des Sozialrechts zwischen Obdachlosigkeit und Nichtsesshaftigkeit ist in diesem Zusammenhang vernachlässigbar) als Störung der öffentlichen Ordnung angesehen. Tatsächlich sind jedoch nicht das geordnete Zusammenleben der Gemeinschaft und ihre gesellschaftlichen Gepflogenheiten bedroht, sondern die Grundrechte des Obdachlosen. Denn die Obdachlosigkeit bedroht auch nach gängiger Rechtssprechung die Rechtsgüter Leben, Gesundheit und Vermögen des Betroffenen. Im Falle unfreiwilliger Obdachlosigkeit müssen daher Maßnahmen zum Schutz Obdachloser ergriffen werden und nicht etwa Maßnahmen, die sich gegen sie als »OrdnungsstörerInnen« richten (3). Gegen einen freiwillig Obdachlosen kann demgegenüber nur eingeschritten werden, wenn ein öffentliches Interesse an der Abwehr seiner Selbstgefährdung bestünde. Dagegen ist der Staat nicht berechtigt, die einzelne Bürgerin an riskanten Unternehmungen oder an einer ihrer Gesundheit abträglichen Lebensführung zu hindern, da auch solche Verhaltensweisen zum Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gehören. Als Zwischenergebnis kann daher festgehalten werden, dass die freiwillige Obdachlosigkeit bzw. Nichtsesshaftigkeit als solche keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung darstellt und ihr somit weder durch polizeirechtliche Einzelmaßnahmen noch durch Verordnungs- und Satzungsrecht begegnet werden kann.