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Ökonomische Interessen und Machtdemonstration (Teil 4)



Damit stellt sich eine neue Frage: Können Kameras, wenn sie nicht einmal hinsichtlich strafrechtlich als kriminell definierten Handlungen große Wirkungen entfalten, grundsätzlich disziplinierend wirken? Eine wesentliche, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung für eine panoptische Wirkung von Kameras ist, dass die Adressaten und Adressatinnen dieser Machtintervention von der Existenz der Kameras wissen. Nur wenn sie die Kameras sehen, sie mittels Schildern darauf hingewiesen werden oder Videoüberwachung so verbreitet ist bzw. so häufig thematisiert wird, dass sie wie selbstverständlich davon ausgehen, beobachtet zu werden, können sie sich an veränderte Normen anpassen bzw. Verhaltens- oder Erscheinungsweisen, die als abweichend gelten, bewusst vermeiden.

Die Kenntnis über die Existenz von Kameras hängt dabei von deren lokalen Inszenierung ab und dürfte zudem sozial hoch selektiv sein. In Leipzig wird auf die Kameras der Polizei mit großen Schildern hingewiesen. In privatisierten Räumen werden oft sogar nur offensiv präsentierte Attrappen eingesetzt, d.h. es wird voll und ganz auf einen disziplinierenden Effekt gesetzt. In Bremen hingegen ist die Kamera der Polizei so unscheinbar, dass sie wie eine Laterne erscheint und auch das Hinweisschild ist klein und hoch angebracht, sodass es kaum wahrgenommen werden dürfte. Disziplinierung ist hier nicht möglich. Auch die versteckten Kameras in Hörsälen der Humboldt-Universität zu Berlin, die dort bis vor kurzem angeblich seit 15-20 Jahren »nur den Haustechnikern« dienten, können nicht die Funktion der Disziplinierung haben. Es lassen sich insofern unterschiedliche Funktionen aber auch Intentionen beim Einsatz von Videoüberwachung vermuten.

Bevor man jedoch disziplinierende Effekte von Videoüberwachung leugnet, scheint es notwendig, Intentionen und Folgen von Videoüberwachung hinsichtlich einzelner Personenkategorien zu vergleichen, für konkrete Handlungen aufzuzeigen und Auswirkungen und Hintergründe von Überwachung je nach Ort zu unterscheiden. So besteht offenbar kein Interesse, Karnevalisten das Biertrinken im öffentlichen Raum zu verbieten oder älteren Damen das Schummeln mit der Parkscheibe nachzuweisen. Das Gespräch eines in den Augen der Überwacher potentiellen Drogenkonsumenten mit einem scheinbar über Kleidung oder Hautfarbe identifizierbaren Verkäufer illegalisierter Stoffe hingegen steht sehr wohl im Blickpunkt der Kameras, genauso wie so manche politische Demonstration oder aber der Alkoholkonsum von Punks in Fußgängerzonen. Dabei leitet nicht die mutmaßliche Evidenz einer Handlung, sondern die Assoziation von bestimmten Personengruppen mit bestimmten Formen von Devianz die Beobachtung sowie der Ort an dem eine Handlung geschieht: Handlungen werden bekanntlich über ihre Kontextmerkmale bedeutet. Visuelle Merkmale von Personen entscheiden über Beobachtungsdauer und -häufigkeit und über weitere Maßnahmen.

Was als Problem identifiziert, observiert und möglicherweise sanktioniert wird, hängt dabei von der subjektiven Situationsinterpretation und damit von den Einstellungen, Vorgaben und der Ausbildung der Beobachter ab – ganz überwiegend sind es Männer – sowie von den Interessen, die innerhalb der überwachten, de jure privaten oder öffentlichen Räume dominieren.