Räumliche Ausgrenzung und Disziplinierung im Zuge von Videoüberwachung vollziehen sich somit als Prozess. Das Panopticon kann dabei als Metapher für die Verinnerlichung von Verhaltensnormen interpretiert werden, äußere Anreize sollen sich so verselbständigen, dass sie nicht mehr benötigt werden. Intrinsische Affektkontrolle kann sich aber nur dann herausbilden, wenn zusätzlich zu den Kameras auch ein »Zwang zum Selbstzwang« einsetzt, d.h. man muss zumindest ab und an mit Sanktionen durch Sicherheitspersonal rechnen müssen. Kameras alleine sind nur ein Appell an die »Selbstkontrollapparatur« wie sie Norbert Elias nannte. Dass Subjekte ausschließlich aufgrund von Kameras Coping-Strategien entwickeln, also auf die Machtdemonstration Kamera reagieren, erscheint dementsprechend bislang als Ausnahme, die auf diejenigen begrenzt ist, die auch tatsächlich mit Videoüberwachung und Sicherheitspersonal konfrontiert werden: sozial marginalisierte Gruppen, soziale und kulturelle Minderheiten und politisch Aktive, die sich für »unerwünschte« Positionen engagieren. So vermeiden es Jugendliche in Shopping Malls länger in Gruppen an einer Stelle zu verweilen oder aber sie inszenieren sich erst vor den Kameras, Händler und Händlerinnen von illegalen Drogen sprechen unter den Kameras ihr Klientel nur noch an, übergeben die Ware jedoch woanders, politisch motivierte Straßenstände werden neben den Sichtbereich der Kamera verlegt etc.
Die überwiegende Mehrheit nimmt die Kameras bislang aber gar nicht wahr oder ignoriert sie, womit ebenso die Auswirkungen auf das so oft betonte subjektive Sicherheitsgefühl marginal sein dürfte, selbst wenn in Umfragen auch denen ohne Suggestivfragen zunächst Zustimmung signalisiert wird.
Mit dieser Beschreibung von Videoüberwachung befindet man sich allerdings in einen alten Dilemma: Praktiker und Praktikerinnen sozialer Kontrolle geben ein Thema nämlich Videoüberwachung vor und die Öffentlichkeit bzw. die Wissenschaft reagiert darauf. Letztere untersucht, was für Auswirkungen die Überwachung von Räumen und Personen haben, ohne dabei jedoch zu berücksichtigen, dass sie ihren Untersuchungsgegenstand erst durch das Reden oder das Schreiben über ihn mitkonstruiert und Folgen erst mitproduziert.
Denn: Das urbane Panopticon konstruiert sich erst durch seine Thematisierung (so wie jetzt gerade) selbst, d.h. erst wenn die Existenz von Kameras allgemein bekannt wird, können diese erst massenhaft disziplinierend wirken. Umgekehrt können aber nur durch die Thematisierung der Folgen von Videoüberwachung diese unterbunden werden. Einem entstehenden Überwachungsstaat oder einer Überwachungsgesellschaft wie es befürchtet wird kann nur so begegnet werden. Innerhalb dieser ambivalenten Diskussion wird sich entscheiden, ob Videoüberwachung die urbane Ordnung technisch bzw. sozial neu konstruiert oder gar dazu dienen wird, die zunehmende soziale und räumliche Polarisierung in den Großstädten ordnungspolitisch abzusichern, wie es derzeit in der Kriminologie hinsichtlich Innerer Sicherheit im Allgemeinen diskutiert wird.
Gesellschaftstheoretisch könnte man sich zwar auf die von Heinrich Popitz betonte These der »Präventivwirkung des Nichtwissens« zurückziehen. Er wies unter anderem darauf hin, dass selbst Orwells Gesellschaft in »1984« nicht durch völlige Transparenz gekennzeichnet war und eine solche auch zum Zusammenbruch der normativ integrierenden Struktur der Gesellschaft führen würde: »Kein System sozialer Normen könnte einer perfekten Verhaltenstransparenz ausgesetzt werden, ohne sich zu Tode zu blamieren«. Die Betreiber von Videoüberwachung sollten und werden vermutlich auch in ihrem eigenen Interesse auf den Versuch, totale Verhaltensinformation herzustellen verzichten. Realisierbar erscheint er ohnehin nicht.